Überschrift

Asyl - ein Stück christlicher Parousie.

 

1. Gottes herzliche Wahr - Nehmung und ihre Folgen.   Eine Erinnerung.

 

In der Geburtsstunde des Volkes Israel - in der ersten Begegnung Gottes mit seinem Volk - läßt er diese Menschen in ihrer größten Not und Bedrängnis der Sklaverei Ägyptens sein Herz finden. In der ersten Begegnung mit Mose[J.P.1]  stellt Gott sich so vor:

„Und der Herr sprach:

Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen.

Ich habe ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört.

Ich habe ihr Leiden erkannt.

Ich bin hernieder gefahren, dass  ich sie errette........

So gehe du nun hin....

Ich will mit dir sein.“

 

Gott wendet sich demnach den Menschen in Güte rettend, bewahrend zu und zwar mit einer Intensität, die nicht die mindeste „Wahrnehmungs - Störung“ duldet.

Alle sinnlichen und geistigen Dimensionen sind beteiligt:

Sehen, Hören, Erkennen, Handeln.

Wahrnehmen und Handeln sind ein Vorgang

                                wie Einatmen und Ausatmen.

Und Mose wird hinein genommen in diesen Vorgang:

Gott verhilft diesem Volk zur Flucht -

ein erster Schritt zu einem menschenwürdigeren Leben.

Er macht sein Volk zu Heimatlosen -

auf eine bessere Zukunft hin.

Die Urerfahrung des Volkes Gottes ist also:

keine Heimat zu haben, Unterdrückungs- und Ausbeutungsbestrebungen anderer rechtlos und ohnmächtig ausgeliefert zu sein -

und gerade deshalb Gottes Zuwendung zu erfahren.

Und diese Erfahrung - fremd zu sein und angenommen zu werden - bleibt von da an für das Volk Gottes,

wie späterhin für die christliche Gemeinde

ein konstitutives, ein ständig zu lehrendes und ständig neu zu lernendes Stück ihres eigenen Wesens,

unverzichtbare Grundlage

es sei denn, man wolle Gott und sich selbst verleugnen..

Ist doch das Passah nach jüdischer Tradition so zu feiern, daß die Feiernden eins werden mit denen, die damals aufbrachen - also heute Gleiches tun:  aufbrechen aus Unterdrückung und Sklaverei. 

Wer die Wahrnehmungsweise Gottes (und ihre Verheißungen!) und die konkreten Folgen nicht ignoriert, sondern sie erinnernd lebendig hält,

wird auch heute das „Herz der Fremden“ verstehen und entsprechende Konsequenzen ziehen:

„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken,

denn ihr wißt um der Fremden Herz,

weil auch ihr Fremdlinge in Ägypten gewesen seid.“ (Ex.23,9).

Seinen lebendigen Ausdruck findet dies besondere Wissen darin, „...daß du in deiner Mitte niemanden unterdrückst und den Notleidenden dein Herz finden läßt.“ So beschreibt Jesaja den rechten Gottesdienst (58,9f)

Diese Aufforderung, das „Wissen um das Herz der Fremden“ nicht zu vernachlässigen,

vielmehr das eigene Herz dem bzw. der Fremden zugänglich zu machen,

ist keineswegs eine Angelegenheit der Moral, und schon gar nicht eine Frage politischer Opportunität.

Vielmehr ist es eine Entscheidung, die Urerfahrung der Menschen in der Begegnung mit Gott wachzuhalten.

Es ist die Entscheidung, von Gott Empfangenes weiterzugeben oder es zu unterschlagen, zu vergessen und damit sich selbst aufzugeben.

Daß es hier um mehr geht als um einen moralischen Appell, wird im NT bestätigt, wenn Jesus sich mit dem Hungrigen, dem Kranken, dem Fremden, dem Obdachlosen identifiziert, der uns heute begegnet, morgen begegnen wird. Ihn zu verfehlen, ihn nicht das eigene Herz finden zu lassen, bedeutet: Christus zu verfehlen, bedeutet: sich selbst zu verfehlen als Christin und Christ - und letztlich wohl als Mensch überhaupt.

Das Wissen um das Herz des Fremden schließt eine entsprechende Gestaltung seiner sozialen Lebensbedingungen ein und erschöpft sich keineswegs in unverbindlichen öffentlichen Erklärungen.

„Und wenn ein Fremder bei dir weilt, in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer von euch soll der Fremde gelten, der bei euch weilt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr wart Fremde im Land Ägypten.

Ich bin Jahwe, euer Gott.“(Lev.3, 19,33ff)

„Einerlei Recht gelte für euch. Für den Fremden gilt es genau wie für die Einheimischen. Denn ich bin Jahwe, euer Gott.“ (Lev.24,22)

„Die Forderung nach völliger Rechtsgleichheit mag erstaunlich klingen, zumal sie ja nicht von so etwas wie Glauben abhängig gemacht wird. Sie gilt vielmehr ganz objektiv und völlig unbeeinflußt vom Verhalten der Fremden. Sie entspringt einfach der Gegenwart Gottes selbst. In seiner Nähe - und das Volk ist der Ort seiner Nähe - kann nicht für verschiedene Menschen Verschiedenes gelten. Wer ihm nahe ist, ist in Privilegien und Pflichten gleichartig. .... In diesen Formulierungen ist wirklich so etwas vollzogen wie eine Ausweitung der Erfahrungen , die im  Heiligtum gelten und Asyl ermöglichen, auf das gesamte Gottesvolk. ...“ [1]

 

Der Umgang mit Fremden wird zum Kriterium für den Zustand einer Gemeinschaft:

Die vorhin zitierte Aufforderung, Fremde nicht zu bedrücken, erscheint im Bundesbuch zweimal hintereinander (Ex.22,20 / 23,9). Sie umschließt den Block des Bundesbuches, in dem alle wichtigen Sozialgebote stehen (Schutz der Armen, Witwen, Waisen; Rechtsprechung; Recht des sozial Schwachen). „Als Hintergrund muß man sicher an die vielen Prophetenworte denken, die die Armen und Schwachen gerade im Gericht am Tor unterliegen sehen (Amos 5,10ff). Der Sinn einer Umrahmung all dieser Themen durch die Schutzgebote für Fremde liegt offenbar darin, daß sie zum Maßstab für das Sozialverhalten überhaupt werden. Da es bei den Fremden ja alle diese Probleme auch gibt - und zwar verschärft - , und da sie selbst wenig Chancen haben, ihr Recht prozessual durchzusetzen, werden sie durch die literarische Rahmenstellung zum inhaltlichen Maßstab, an dem Recht und Gerechtigkeit einer Gesellschaft überhaupt gemessen werden können.“[2]

Allerdings ist die Verpflichtung, Fremden, Heimatlosen, Verfolgten und Armen beizustehen, ihr Leben und ihr Recht zu schützen, als ein Teil tätiger Nächstenliebe eine Grundfunktion kirchlichen Handelns und nach meinem Verständnis gleichrangig mit der Verkündigung des Wortes und der Sakramentsfeier.

Aus dieser Verpflichtung kann kein staatliches Gesetz die christliche Gemeinde entlassen. -

Und sie sich selbst auch nicht.

Sie bleibt Anwältin der Betroffenen mit jenem besonderen Wissen um deren Herz, also um die tatsächliche Not und das Leiden jedes einzelnen Flüchtlings - und zwar auch dort, wo weder irgendwelche Statistiken, noch eine notwendig generalisierende staatliche Gesetzgebung in der Lage sind,

dies hinreichend zu erfassen.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes trägt dem insoweit Rechnung, als auch im Konfliktfall zwischen staatlichem Rechtsgüterschutz und Kirchenfreiheit eine sorgfältige Güterabwägung stattzufinden hat, bei der dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen ist.

 

2. Die Heimat des Gottesvolkes und seine Heilung.   Erinnerung an die Zukunft

    (Reform an Haupt und Gliedern)

 

Christliche Gemeinde lebt aus der Gewißheit, daß das „Reich Gottes nahe herbei gekommen ist.“ So die Botschaft Jesu.

Christliche Gemeinde lebt, existiert solange und insoweit,

als sie sich auf diese besondere Nähe Gottes einzustellen vermag.[3]

Das allein ist ihr Ort in der Welt[4] :

In ihr suchen die Gewißheit des jetzt schon herein brechenden Gottesreiches und die Sehnsucht nach seiner Vollendung zwar immer wieder hilflos, im Ergebnis aber doch unbeirrbar eindringlich Gestalt zu gewinnen. Das ist die christliche Gemeinde Gott, der Welt und sich selbst schuldig. -

Es ist nicht ihre Aufgabe, selbst die Welt von allem Übel zu erlösen, wohl aber mit Nachdruck und wenn es sein muß auch im deutlichen Widerspruch zu herrschenden Verhältnissen auf die Richtung hinzuweisen, in der sich letzten Endes alles Weltgeschehen entwickeln wird.

Die christliche Gemeinde hat sich selbst kritisch zu prüfen und ist auch der Welt im Allgemeinen darüber zur Rechenschaft verpflichtet, ob sie sich noch an diesem Ort befindet oder ihn bereits verlassen hat.

Verlassen hat sie ihn spätestens dann, wenn sie nicht mehr mit allem Nachdruck beten kann: Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du. Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens.“(Jes.26,13) .

D.h. wenn sie nicht mehr differenzieren kann zwischen Gott und den Machthabern, welche ihm in dieser Welt Konkurrenz machen und meinen, über ihn triumphieren zu können,

wenn bei ihr in Vergessenheit gerät, daß christliche Gemeinde eigentlich notgedrungen im Widerspruch lebt.

Die Heimat christlicher Gemeinde ist die von Gott verheißene Zukunft[5], - nicht die Vergangenheit („Tradition“), nicht die Gegenwart („marktgerecht“). Schon gar nicht, solange unsere Erde für die Mehrzahl der Bewohner die Hölle ist. Insofern sind Christinnen und Christen immer zuallererst selbst „Fremdlinge“, Heimatlose und bleiben es vorerst.

Das bringt sie - wenn auch aus ganz anderen Gründen - in eine gewisse Nähe zu anderen Heimatlosen, Menschen, die fliehen mußten oder müssen, vor Verfolgung, wirtschaftlicher Not, Krieg, Hunger usw.

Diese Nähe ist ein signifikantes Merkmal dafür, dass die christliche Gemeinde in dieser Welt ihren Ort einnimmt.

Sie erhält ihre aktuelle und kritische Prägnung durch den Rückgriff auf die Wurzeln ihrer Tradition.

Sie rührt nicht nur von der Zukunft her, die ihr verheißen ist.

Weil Gott selbst vielmehr ganz am Anfang seinem Volk zur Flucht aus Sklaverei, aus menschenunwürdigen Verhältnissen half  und ihm damit sehr konkret einen Weg wies und ein Ziel gab, darum gelten seitdem bis in Gottes Zukunft mit dieser Welt Kernbestandteile der jüdischen und der christlichen Überlieferung dem Recht und der individuellen und sozialen Lebensqualität der Fremden. -

Die individuelle und soziale  Lebensqualität der Fremden ist geradezu ursächlich verknüpft mit dem Wohlergehen des „Volkes Gottes“ bzw. der christlichen Gemeinde. D.h. wo immer Recht und Lebensqualität der Fremden eingeschränkt werden bzw. bedroht sind, verliert eine christliche Gemeinde Substanz. Sie wird also auch um ihrer selbst willen darauf bedacht sein, das Recht der Fremden nicht zu beugen, bzw. sich einer Beugung dieses Rechts zu widersetzen.

Im Eintreten für das Recht der Fremden identifiziert sich eine christliche Gemeinde mit dem schwächsten Glied der Gesellschaft, in der sie lebt. Sie bekennt sich damit zu einer bewahrenden Grundlage und Zukunft eröffnenden Gemeinschaft, die es nicht nötig hat andere diskriminierend auszuschließen. Wer in Not ist, hat Zugang zu dieser Gemeinschaft, genießt ihren Schutz, ihre Fürsorge.

Zugleich ist die konkrete Aufnahme des/der Notleidenden für sie Bestandteil ihres Gottesdienstes.[6] In ihrem so gefeierten Gottesdienst öffnet sich die Gemeinde bittend und dankend dem heilsamen (rettenden und bewahrenden) Handeln Gottes, der auf Leben und Zukunft hin inspirierenden Kraft des Heiligen Geistes. Die Menschen, die da versammelt sind, erfahren, daß ihr Glauben befreit wird zu einer erfahrbaren und Wirklichkeit gestaltenden Kraft.[7]

Gottesdienst feiernd auf diese Weise nimmt die versammelte Gemeinde in ihrer Liturgie zeichenhaft vorweg, was ihr verheißen ist als ein Leben in der von Gott neu zu schaffenden Welt, in der Gott  „mitten unter den Menschen wohnen wird, es keine Tränen, keinen Schmerz, keinen Tod mehr geben wird.“ (Offb. 21)

Sie tut das in aller Unzulänglichkeit und Anfechtung (Eitelkeit, Vermessenheit, Zweifel, Phantasielosigkeit, Dummheit, Erschöpfung). Sie tut es aber auch in der sehnsüchtigen Hoffnung, Gott möge sich ihrer Sehnsucht und Unzulänglichkeit erbarmen und die Not in wunderbarer Weise beenden.

So nimmt die christliche Gemeinde ihren Ort der „Heimatlosigkeit“ in der Welt ein. Andere werden darauf reagieren: erfreut oder empört.

Reagiert niemand, hat sie ihren Ort noch nicht gefunden.[8]

 

3. Unsere herzliche Wahr-Nehmung und ihre Folgen.

In enger Anbindung an jüdisch-biblische Tradition ist uns der Rückzug in eine transzendente Jenseits-Eschatologie verwehrt. Vielmehr gehören wir mit aller uns zur Verfügung stehenden Geistesgegenwart in eine innerweltliche Heilsgeschichte mit einer, den Verheißungen Gottes entsprechenden Zukunft.

Tagungsgespräch in einer Evangelischen Akademie Anfang der fünfziger Jahre. Der Leiter der Akademie: „Wir sind nicht für die Wiederbewaffnung, wir sind nicht gegen sie, darum reden wir den Staat in dieser Sache nicht an.“ Ein Pfarrer springt auf und ruft leidenschaftlich in den Saal: „Wir haben schon einmal geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. Das darf nicht wieder vorkommen!“ [9] -

Einzelne springen auf und rufen leidenschaftlich dazwischen.

Auch die Kirche als Ganze weiß um ihren „sozialen Auftrag“, äußert sich öffentlich. „Denkschriften“ wurden publiziert, allerdings in der Regel solange durchdacht und überarbeitet, bis sie gar nicht anders konnten, als öffentliche Anerkennung finden – zu Bekenntnissen wurden und werden sie dadurch nicht.[10]

Das, worauf der Staat vor allem ein Anrecht gehabt hätte,  nämlich etwas grundlegend Anderes zu hören als das, was er selbst weiß und sagt, etwas woran er sich gegebenenfalls wirklich hätte reiben, sich entwickeln können, das wurde ihm vorenthalten. Statt dessen entschied man sich z.B. für den „Friedensdienst mit und ohne Waffe“ und erklärte Jahre später auf ein kritische Anfragen zu einer kirchenleitenden Stellungnahme zur „Asylrechtsänderung“ (d.h. dem faktischen Außerkraftsetzen! des Grundrechts): „Sie haben mich zwar ausdrücklich als Christ und Präses der Synode (EKD) angesprochen. Da ich aber - wie Sie wissen -  auch Politiker bin, möchte ich Ihnen als solcher antworten....“.

 

·      Nicht nur dem Staat ist die Kirche etwas schuldig geblieben. Auch - und vielleicht vor allem - sich selbst. Das „Regime der Schwebe“ (Karl Barth), das Nicht-Gebrauchmachen von dem Geist, von der Kraft, die der Kirche Jesu Christi anvertraut ist, der damit zum Ausdruck kommende Kleinglauben ist Sünde. Und die spielt sich nicht nur im Kopf ab. Ihr Ort ist nicht nur das individuelle schlechte Gewissen.  Sie zersetzt vielmehr ebenso schleichend wie konsequent die Fundamente konkreten Gemeindelebens. Die Folge: Menschen laufen weg. Sie finden keinen Halt, keine Orientierung, keine Erneuerung des individuellen und sozialen Lebens - und sei es nur in der immer wieder auflodernden Hoffnung. 

Und: das große Verlangen nach immer wieder zu erneuerndem, nach unzufrieden-hoffnungsvollem Leben, das so viele Menschen innerhalb und(!) außerhalb des üblichen Gemeindelebens in sich tragen, hat nichts mehr, woran es sich konkret fest machen ließe. Es fehlen die konkreten Erfahrungen, die auf den Hoffnungszusammenhang verweisen und miteinander geteilt werden könnten.

Der Schaden [11] zwingt zu einer Neubesinnung. Dazu gilt es zunächst festzuhalten, was sein soll, ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit, bzw. u.U. den Bereich randständiger kritischer Äußerungen zu verlassen und mit eigenem Legitimationsanspruch in staatlich exklusiv beanspruchte Politik hineinzureden (s.S.8).

 

Nach den Schwierigkeiten der Berge (theologische Ortsbestimmung) kommen sogleich die Schwierigkeiten der Täler (alltägliches Leben einer christlichen Gemende):

Bis an die Grenzen des Erträglichen wird eine Neubesinnung erschwert, wenn man dabei eine „real-existierende Gemeinde“ mit all ihrer Widersprüchlichkeit, mit all den Einbindungen in alltägliche Abhängigkeit vor Augen hat, und sich nicht mit einem Idealtypus von Gemeinde begnügen will.

Im so Konkreten mag man schnell vorgehalten bekommen, hier werde wenig „seelsorgerlich“ bzw. rücksichtsvoll  von oben herab gedacht und geredet, steile, einseitige Forderungen aufgestellt, die kaum Gespür für Sachzwänge erkennen lassen und erst recht kein Mitleid mit denen, die darin befangen sind.

Aber selbst das darf nicht daran hindern, gerade dann, wenn die Konturen zu verschwimmen drohen, sich der eigensten Normen und  Verheißungen  zu vergewissern.

Zu lehren und einzuüben wäre die Distanz, nicht die „volkskirchliche“ Nähe.

Zu lehren und einzuüben wäre das Leben im Widerspruch mit all seinen Verheißungen aber auch Gefahren (der Ungeduld, der Überheblichkeit, des mangelnden Realitätsbezugs, der leichtfertigen und nutzlosen Isolation, der Erschöpfung, des Zweifels, der Erfahrung der Sinnlosigkeit).   

Zu überprüfen wären die Kriterien, nach denen Finanz- und Personalentscheidungen getroffen werden. Zu überprüfen wären der Zeit- und Kraftaufwand und die Ziele: Inwieweit halten sie etwas von der Erinnerung an die Anfänge wach.

 


[1]Crüsemann, F. „Das Gottesvolk als Schutzraum“ in: Just,W.-D., „Asyl von unten“ 1993  S.69f

[2]Crüsemann, ebd. , S.63

[3] Käsemann, Kirchl. Konflikte 2214 : „Christen und kirchliche Gemeinschaften sind nur solange glaubwürdig, wie man in ihnen den stürmischen Schrei vernimmt: „Dein Reich komme!“

[4] Bonhoeffer, D. Ges.W. V „Die Kirche ist der Ort der Offenbarung Gottes. Dies will unsere Anerkennung. Mit der heutigen Kirche ist Gott in Not gekommen.... Die neue Situation ist einerseits gekennzeichnet durch die Ortlosigkeit der Kirche. Sie will überall sein und ist darum nirgends. Sie ist ungreifbar und darum unangreifbar geworden.“

[5] Marquardt, F.W. Theol. „Erneuerung dieser uns bekannten Welt, zu einer von der Liebe Gottes durchwärmten und in seinem Frieden und seiner Gerechtigkeit versöhnten Gestalt.“ Sowohl kosmisch-naturhaft wie auch politisch-gesellschaftlich.

[6] So beschreibt Jesaia den rechten Gottesdienst: „....daß du in deiner Mitte niemanden unterdrückst und den Notleidenden dein Herz finden läßt.“ (58,9f)

[7] Jes.58,8.11: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen..... Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“

[8] Die christliche Gemeinde ist der Ort in der Welt, an dem Gebot und Verheißung Gottes (wie sie in der Bibel überliefert sind) so auf die jeweiligen Lebens- und Sterbensverhältnisse hin zu verkünden, daß die Bewegung der Welt auf das Reich Gottes hin - die Auferstehung - für alle Menschen erkennbar und nachvollziehbar werden.

„Spezifisch jüdisch und christlich sind hier nur die Verwegenheit und die Radikalität, in der sie, allen Zwanghaftigkeiten des gesunden Menschenverstandes zum Trotz, ihm das Verheißungsvolle, Gute, also zuerst und zuletzt: Gott und seine Verheißungen als das allgemein Menschliche zumuten.“ (Marquardt 47)

In diesem Sinn ist christlicher Gemeinde ein Zeichen, d.h. lebt und entwickelt sich in einer Gestalt, die leidend und feiernd teilhat an der Geschichte Gottes mit dieser seiner Welt. „Mit ihrem Hoffen wirken Christen vor der Weltöffentlichkeit, indem sie in Verfolgung ihre Hoffnung nicht aufgeben und sie auch durch hoffnungsvolle Institutionen gesellschaftlich bezeugen und wirksam, zu machen versuchen.“ (Ma.94)

[9] Zahrnt, H., Die Sache mit Gott. 1967, S.221

[10] Marquardt „Gott helfe uns.Amen.“ Anmerkungen zum status confessionis jetzt. 1983. S.5. „Die Denkschriften dienen geradezu dazu, Bekenntnisfälle zu vermeiden.“

[11] Marquardt. ebd. S.7  Hier zur Friedensfrage: „Die Gotteserkentnis der Kirche - und damit ihr öffentliches Glaubensbekenntnis - bleibt gespalten zwischen einer halben Erkenntnis uns einer halben Nichterkenntnis Gottes in bezug auf  die Realität. Solche Halbheit der Gotteserkenntnis wirkt sich dann in allen übrigen Erkenntnis- und Daseinsformen der Kirche aus. Die Losung „mit und ohne Waffen“ spiegelt die Halbheit der Erkenntnis Gottes in der Halbheit des ethischen Ratschlags.“

 


 [J.P.1]s.Jes.58,9b.10: „Wenn du in deiner Mitte niemanden unterjochst....sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen....“

ein Leben voller Wunder ...

 

 

 

 

Asyl - ein Stück christlicher Parousie.

 

1. Gottes herzliche Wahr - Nehmung und ihre Folgen.   Eine Erinnerung.

 

In der Geburtsstunde des Volkes Israel - in der ersten Begegnung Gottes mit seinem Volk - läßt er diese Menschen in ihrer größten Not und Bedrängnis der Sklaverei Ägyptens sein Herz finden. In der ersten Begegnung mit Mose[J.P.1]  stellt Gott sich so vor:

„Und der Herr sprach:

Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen.

Ich habe ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört.

Ich habe ihr Leiden erkannt.

Ich bin hernieder gefahren, dass  ich sie errette........

So gehe du nun hin....

Ich will mit dir sein.“

 

Gott wendet sich demnach den Menschen in Güte rettend, bewahrend zu und zwar mit einer Intensität, die nicht die mindeste „Wahrnehmungs - Störung“ duldet.

Alle sinnlichen und geistigen Dimensionen sind beteiligt:

Sehen, Hören, Erkennen, Handeln.

Wahrnehmen und Handeln sind ein Vorgang

                                wie Einatmen und Ausatmen.

Und Mose wird hinein genommen in diesen Vorgang:

Gott verhilft diesem Volk zur Flucht -

ein erster Schritt zu einem menschenwürdigeren Leben.

Er macht sein Volk zu Heimatlosen -

auf eine bessere Zukunft hin.

Die Urerfahrung des Volkes Gottes ist also:

keine Heimat zu haben, Unterdrückungs- und Ausbeutungsbestrebungen anderer rechtlos und ohnmächtig ausgeliefert zu sein -

und gerade deshalb Gottes Zuwendung zu erfahren.

Und diese Erfahrung - fremd zu sein und angenommen zu werden - bleibt von da an für das Volk Gottes,

wie späterhin für die christliche Gemeinde

ein konstitutives, ein ständig zu lehrendes und ständig neu zu lernendes Stück ihres eigenen Wesens,

unverzichtbare Grundlage

es sei denn, man wolle Gott und sich selbst verleugnen..

Ist doch das Passah nach jüdischer Tradition so zu feiern, daß die Feiernden eins werden mit denen, die damals aufbrachen - also heute Gleiches tun:  aufbrechen aus Unterdrückung und Sklaverei. 

Wer die Wahrnehmungsweise Gottes (und ihre Verheißungen!) und die konkreten Folgen nicht ignoriert, sondern sie erinnernd lebendig hält,

wird auch heute das „Herz der Fremden“ verstehen und entsprechende Konsequenzen ziehen:

„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken,

denn ihr wißt um der Fremden Herz,

weil auch ihr Fremdlinge in Ägypten gewesen seid.“ (Ex.23,9).

Seinen lebendigen Ausdruck findet dies besondere Wissen darin, „...daß du in deiner Mitte niemanden unterdrückst und den Notleidenden dein Herz finden läßt.“ So beschreibt Jesaja den rechten Gottesdienst (58,9f)

Diese Aufforderung, das „Wissen um das Herz der Fremden“ nicht zu vernachlässigen,

vielmehr das eigene Herz dem bzw. der Fremden zugänglich zu machen,

ist keineswegs eine Angelegenheit der Moral, und schon gar nicht eine Frage politischer Opportunität.

Vielmehr ist es eine Entscheidung, die Urerfahrung der Menschen in der Begegnung mit Gott wachzuhalten.

Es ist die Entscheidung, von Gott Empfangenes weiterzugeben oder es zu unterschlagen, zu vergessen und damit sich selbst aufzugeben.

Daß es hier um mehr geht als um einen moralischen Appell, wird im NT bestätigt, wenn Jesus sich mit dem Hungrigen, dem Kranken, dem Fremden, dem Obdachlosen identifiziert, der uns heute begegnet, morgen begegnen wird. Ihn zu verfehlen, ihn nicht das eigene Herz finden zu lassen, bedeutet: Christus zu verfehlen, bedeutet: sich selbst zu verfehlen als Christin und Christ - und letztlich wohl als Mensch überhaupt.

Das Wissen um das Herz des Fremden schließt eine entsprechende Gestaltung seiner sozialen Lebensbedingungen ein und erschöpft sich keineswegs in unverbindlichen öffentlichen Erklärungen.

„Und wenn ein Fremder bei dir weilt, in eurem Land, sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer von euch soll der Fremde gelten, der bei euch weilt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr wart Fremde im Land Ägypten.

Ich bin Jahwe, euer Gott.“(Lev.3, 19,33ff)

„Einerlei Recht gelte für euch. Für den Fremden gilt es genau wie für die Einheimischen. Denn ich bin Jahwe, euer Gott.“ (Lev.24,22)

„Die Forderung nach völliger Rechtsgleichheit mag erstaunlich klingen, zumal sie ja nicht von so etwas wie Glauben abhängig gemacht wird. Sie gilt vielmehr ganz objektiv und völlig unbeeinflußt vom Verhalten der Fremden. Sie entspringt einfach der Gegenwart Gottes selbst. In seiner Nähe - und das Volk ist der Ort seiner Nähe - kann nicht für verschiedene Menschen Verschiedenes gelten. Wer ihm nahe ist, ist in Privilegien und Pflichten gleichartig. .... In diesen Formulierungen ist wirklich so etwas vollzogen wie eine Ausweitung der Erfahrungen , die im  Heiligtum gelten und Asyl ermöglichen, auf das gesamte Gottesvolk. ...“ [1]

 

Der Umgang mit Fremden wird zum Kriterium für den Zustand einer Gemeinschaft:

Die vorhin zitierte Aufforderung, Fremde nicht zu bedrücken, erscheint im Bundesbuch zweimal hintereinander (Ex.22,20 / 23,9). Sie umschließt den Block des Bundesbuches, in dem alle wichtigen Sozialgebote stehen (Schutz der Armen, Witwen, Waisen; Rechtsprechung; Recht des sozial Schwachen). „Als Hintergrund muß man sicher an die vielen Prophetenworte denken, die die Armen und Schwachen gerade im Gericht am Tor unterliegen sehen (Amos 5,10ff). Der Sinn einer Umrahmung all dieser Themen durch die Schutzgebote für Fremde liegt offenbar darin, daß sie zum Maßstab für das Sozialverhalten überhaupt werden. Da es bei den Fremden ja alle diese Probleme auch gibt - und zwar verschärft - , und da sie selbst wenig Chancen haben, ihr Recht prozessual durchzusetzen, werden sie durch die literarische Rahmenstellung zum inhaltlichen Maßstab, an dem Recht und Gerechtigkeit einer Gesellschaft überhaupt gemessen werden können.“[2]

Allerdings ist die Verpflichtung, Fremden, Heimatlosen, Verfolgten und Armen beizustehen, ihr Leben und ihr Recht zu schützen, als ein Teil tätiger Nächstenliebe eine Grundfunktion kirchlichen Handelns und nach meinem Verständnis gleichrangig mit der Verkündigung des Wortes und der Sakramentsfeier.

Aus dieser Verpflichtung kann kein staatliches Gesetz die christliche Gemeinde entlassen. -

Und sie sich selbst auch nicht.

Sie bleibt Anwältin der Betroffenen mit jenem besonderen Wissen um deren Herz, also um die tatsächliche Not und das Leiden jedes einzelnen Flüchtlings - und zwar auch dort, wo weder irgendwelche Statistiken, noch eine notwendig generalisierende staatliche Gesetzgebung in der Lage sind,

dies hinreichend zu erfassen.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes trägt dem insoweit Rechnung, als auch im Konfliktfall zwischen staatlichem Rechtsgüterschutz und Kirchenfreiheit eine sorgfältige Güterabwägung stattzufinden hat, bei der dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen ist.

 

2. Die Heimat des Gottesvolkes und seine Heilung.   Erinnerung an die Zukunft

    (Reform an Haupt und Gliedern)

 

Christliche Gemeinde lebt aus der Gewißheit, daß das „Reich Gottes nahe herbei gekommen ist.“ So die Botschaft Jesu.

Christliche Gemeinde lebt, existiert solange und insoweit,

als sie sich auf diese besondere Nähe Gottes einzustellen vermag.[3]

Das allein ist ihr Ort in der Welt[4] :

In ihr suchen die Gewißheit des jetzt schon herein brechenden Gottesreiches und die Sehnsucht nach seiner Vollendung zwar immer wieder hilflos, im Ergebnis aber doch unbeirrbar eindringlich Gestalt zu gewinnen. Das ist die christliche Gemeinde Gott, der Welt und sich selbst schuldig. -

Es ist nicht ihre Aufgabe, selbst die Welt von allem Übel zu erlösen, wohl aber mit Nachdruck und wenn es sein muß auch im deutlichen Widerspruch zu herrschenden Verhältnissen auf die Richtung hinzuweisen, in der sich letzten Endes alles Weltgeschehen entwickeln wird.

Die christliche Gemeinde hat sich selbst kritisch zu prüfen und ist auch der Welt im Allgemeinen darüber zur Rechenschaft verpflichtet, ob sie sich noch an diesem Ort befindet oder ihn bereits verlassen hat.

Verlassen hat sie ihn spätestens dann, wenn sie nicht mehr mit allem Nachdruck beten kann: Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du. Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens.“(Jes.26,13) .

D.h. wenn sie nicht mehr differenzieren kann zwischen Gott und den Machthabern, welche ihm in dieser Welt Konkurrenz machen und meinen, über ihn triumphieren zu können,

wenn bei ihr in Vergessenheit gerät, daß christliche Gemeinde eigentlich notgedrungen im Widerspruch lebt.

Die Heimat christlicher Gemeinde ist die von Gott verheißene Zukunft[5], - nicht die Vergangenheit („Tradition“), nicht die Gegenwart („marktgerecht“). Schon gar nicht, solange unsere Erde für die Mehrzahl der Bewohner die Hölle ist. Insofern sind Christinnen und Christen immer zuallererst selbst „Fremdlinge“, Heimatlose und bleiben es vorerst.

Das bringt sie - wenn auch aus ganz anderen Gründen - in eine gewisse Nähe zu anderen Heimatlosen, Menschen, die fliehen mußten oder müssen, vor Verfolgung, wirtschaftlicher Not, Krieg, Hunger usw.

Diese Nähe ist ein signifikantes Merkmal dafür, dass die christliche Gemeinde in dieser Welt ihren Ort einnimmt.

Sie erhält ihre aktuelle und kritische Prägnung durch den Rückgriff auf die Wurzeln ihrer Tradition.

Sie rührt nicht nur von der Zukunft her, die ihr verheißen ist.

Weil Gott selbst vielmehr ganz am Anfang seinem Volk zur Flucht aus Sklaverei, aus menschenunwürdigen Verhältnissen half  und ihm damit sehr konkret einen Weg wies und ein Ziel gab, darum gelten seitdem bis in Gottes Zukunft mit dieser Welt Kernbestandteile der jüdischen und der christlichen Überlieferung dem Recht und der individuellen und sozialen Lebensqualität der Fremden. -

Die individuelle und soziale  Lebensqualität der Fremden ist geradezu ursächlich verknüpft mit dem Wohlergehen des „Volkes Gottes“ bzw. der christlichen Gemeinde. D.h. wo immer Recht und Lebensqualität der Fremden eingeschränkt werden bzw. bedroht sind, verliert eine christliche Gemeinde Substanz. Sie wird also auch um ihrer selbst willen darauf bedacht sein, das Recht der Fremden nicht zu beugen, bzw. sich einer Beugung dieses Rechts zu widersetzen.

Im Eintreten für das Recht der Fremden identifiziert sich eine christliche Gemeinde mit dem schwächsten Glied der Gesellschaft, in der sie lebt. Sie bekennt sich damit zu einer bewahrenden Grundlage und Zukunft eröffnenden Gemeinschaft, die es nicht nötig hat andere diskriminierend auszuschließen. Wer in Not ist, hat Zugang zu dieser Gemeinschaft, genießt ihren Schutz, ihre Fürsorge.

Zugleich ist die konkrete Aufnahme des/der Notleidenden für sie Bestandteil ihres Gottesdienstes.[6] In ihrem so gefeierten Gottesdienst öffnet sich die Gemeinde bittend und dankend dem heilsamen (rettenden und bewahrenden) Handeln Gottes, der auf Leben und Zukunft hin inspirierenden Kraft des Heiligen Geistes. Die Menschen, die da versammelt sind, erfahren, daß ihr Glauben befreit wird zu einer erfahrbaren und Wirklichkeit gestaltenden Kraft.[7]

Gottesdienst feiernd auf diese Weise nimmt die versammelte Gemeinde in ihrer Liturgie zeichenhaft vorweg, was ihr verheißen ist als ein Leben in der von Gott neu zu schaffenden Welt, in der Gott  „mitten unter den Menschen wohnen wird, es keine Tränen, keinen Schmerz, keinen Tod mehr geben wird.“ (Offb. 21)

Sie tut das in aller Unzulänglichkeit und Anfechtung (Eitelkeit, Vermessenheit, Zweifel, Phantasielosigkeit, Dummheit, Erschöpfung). Sie tut es aber auch in der sehnsüchtigen Hoffnung, Gott möge sich ihrer Sehnsucht und Unzulänglichkeit erbarmen und die Not in wunderbarer Weise beenden.

So nimmt die christliche Gemeinde ihren Ort der „Heimatlosigkeit“ in der Welt ein. Andere werden darauf reagieren: erfreut oder empört.

Reagiert niemand, hat sie ihren Ort noch nicht gefunden.[8]

 

3. Unsere herzliche Wahr-Nehmung und ihre Folgen.

In enger Anbindung an jüdisch-biblische Tradition ist uns der Rückzug in eine transzendente Jenseits-Eschatologie verwehrt. Vielmehr gehören wir mit aller uns zur Verfügung stehenden Geistesgegenwart in eine innerweltliche Heilsgeschichte mit einer, den Verheißungen Gottes entsprechenden Zukunft.

Tagungsgespräch in einer Evangelischen Akademie Anfang der fünfziger Jahre. Der Leiter der Akademie: „Wir sind nicht für die Wiederbewaffnung, wir sind nicht gegen sie, darum reden wir den Staat in dieser Sache nicht an.“ Ein Pfarrer springt auf und ruft leidenschaftlich in den Saal: „Wir haben schon einmal geschwiegen, wo wir hätten reden müssen. Das darf nicht wieder vorkommen!“ [9] -

Einzelne springen auf und rufen leidenschaftlich dazwischen.

Auch die Kirche als Ganze weiß um ihren „sozialen Auftrag“, äußert sich öffentlich. „Denkschriften“ wurden publiziert, allerdings in der Regel solange durchdacht und überarbeitet, bis sie gar nicht anders konnten, als öffentliche Anerkennung finden – zu Bekenntnissen wurden und werden sie dadurch nicht.[10]

Das, worauf der Staat vor allem ein Anrecht gehabt hätte,  nämlich etwas grundlegend Anderes zu hören als das, was er selbst weiß und sagt, etwas woran er sich gegebenenfalls wirklich hätte reiben, sich entwickeln können, das wurde ihm vorenthalten. Statt dessen entschied man sich z.B. für den „Friedensdienst mit und ohne Waffe“ und erklärte Jahre später auf ein kritische Anfragen zu einer kirchenleitenden Stellungnahme zur „Asylrechtsänderung“ (d.h. dem faktischen Außerkraftsetzen! des Grundrechts): „Sie haben mich zwar ausdrücklich als Christ und Präses der Synode (EKD) angesprochen. Da ich aber - wie Sie wissen -  auch Politiker bin, möchte ich Ihnen als solcher antworten....“.

 

·      Nicht nur dem Staat ist die Kirche etwas schuldig geblieben. Auch - und vielleicht vor allem - sich selbst. Das „Regime der Schwebe“ (Karl Barth), das Nicht-Gebrauchmachen von dem Geist, von der Kraft, die der Kirche Jesu Christi anvertraut ist, der damit zum Ausdruck kommende Kleinglauben ist Sünde. Und die spielt sich nicht nur im Kopf ab. Ihr Ort ist nicht nur das individuelle schlechte Gewissen.  Sie zersetzt vielmehr ebenso schleichend wie konsequent die Fundamente konkreten Gemeindelebens. Die Folge: Menschen laufen weg. Sie finden keinen Halt, keine Orientierung, keine Erneuerung des individuellen und sozialen Lebens - und sei es nur in der immer wieder auflodernden Hoffnung. 

Und: das große Verlangen nach immer wieder zu erneuerndem, nach unzufrieden-hoffnungsvollem Leben, das so viele Menschen innerhalb und(!) außerhalb des üblichen Gemeindelebens in sich tragen, hat nichts mehr, woran es sich konkret fest machen ließe. Es fehlen die konkreten Erfahrungen, die auf den Hoffnungszusammenhang verweisen und miteinander geteilt werden könnten.

Der Schaden [11] zwingt zu einer Neubesinnung. Dazu gilt es zunächst festzuhalten, was sein soll, ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit, bzw. u.U. den Bereich randständiger kritischer Äußerungen zu verlassen und mit eigenem Legitimationsanspruch in staatlich exklusiv beanspruchte Politik hineinzureden (s.S.8).

 

Nach den Schwierigkeiten der Berge (theologische Ortsbestimmung) kommen sogleich die Schwierigkeiten der Täler (alltägliches Leben einer christlichen Gemende):

Bis an die Grenzen des Erträglichen wird eine Neubesinnung erschwert, wenn man dabei eine „real-existierende Gemeinde“ mit all ihrer Widersprüchlichkeit, mit all den Einbindungen in alltägliche Abhängigkeit vor Augen hat, und sich nicht mit einem Idealtypus von Gemeinde begnügen will.

Im so Konkreten mag man schnell vorgehalten bekommen, hier werde wenig „seelsorgerlich“ bzw. rücksichtsvoll  von oben herab gedacht und geredet, steile, einseitige Forderungen aufgestellt, die kaum Gespür für Sachzwänge erkennen lassen und erst recht kein Mitleid mit denen, die darin befangen sind.

Aber selbst das darf nicht daran hindern, gerade dann, wenn die Konturen zu verschwimmen drohen, sich der eigensten Normen und  Verheißungen  zu vergewissern.

Zu lehren und einzuüben wäre die Distanz, nicht die „volkskirchliche“ Nähe.

Zu lehren und einzuüben wäre das Leben im Widerspruch mit all seinen Verheißungen aber auch Gefahren (der Ungeduld, der Überheblichkeit, des mangelnden Realitätsbezugs, der leichtfertigen und nutzlosen Isolation, der Erschöpfung, des Zweifels, der Erfahrung der Sinnlosigkeit).   

Zu überprüfen wären die Kriterien, nach denen Finanz- und Personalentscheidungen getroffen werden. Zu überprüfen wären der Zeit- und Kraftaufwand und die Ziele: Inwieweit halten sie etwas von der Erinnerung an die Anfänge wach.

 


[1]Crüsemann, F. „Das Gottesvolk als Schutzraum“ in: Just,W.-D., „Asyl von unten“ 1993  S.69f

[2]Crüsemann, ebd. , S.63

[3] Käsemann, Kirchl. Konflikte 2214 : „Christen und kirchliche Gemeinschaften sind nur solange glaubwürdig, wie man in ihnen den stürmischen Schrei vernimmt: „Dein Reich komme!“

[4] Bonhoeffer, D. Ges.W. V „Die Kirche ist der Ort der Offenbarung Gottes. Dies will unsere Anerkennung. Mit der heutigen Kirche ist Gott in Not gekommen.... Die neue Situation ist einerseits gekennzeichnet durch die Ortlosigkeit der Kirche. Sie will überall sein und ist darum nirgends. Sie ist ungreifbar und darum unangreifbar geworden.“

[5] Marquardt, F.W. Theol. „Erneuerung dieser uns bekannten Welt, zu einer von der Liebe Gottes durchwärmten und in seinem Frieden und seiner Gerechtigkeit versöhnten Gestalt.“ Sowohl kosmisch-naturhaft wie auch politisch-gesellschaftlich.

[6] So beschreibt Jesaia den rechten Gottesdienst: „....daß du in deiner Mitte niemanden unterdrückst und den Notleidenden dein Herz finden läßt.“ (58,9f)

[7] Jes.58,8.11: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen..... Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“

[8] Die christliche Gemeinde ist der Ort in der Welt, an dem Gebot und Verheißung Gottes (wie sie in der Bibel überliefert sind) so auf die jeweiligen Lebens- und Sterbensverhältnisse hin zu verkünden, daß die Bewegung der Welt auf das Reich Gottes hin - die Auferstehung - für alle Menschen erkennbar und nachvollziehbar werden.

„Spezifisch jüdisch und christlich sind hier nur die Verwegenheit und die Radikalität, in der sie, allen Zwanghaftigkeiten des gesunden Menschenverstandes zum Trotz, ihm das Verheißungsvolle, Gute, also zuerst und zuletzt: Gott und seine Verheißungen als das allgemein Menschliche zumuten.“ (Marquardt 47)

In diesem Sinn ist christlicher Gemeinde ein Zeichen, d.h. lebt und entwickelt sich in einer Gestalt, die leidend und feiernd teilhat an der Geschichte Gottes mit dieser seiner Welt. „Mit ihrem Hoffen wirken Christen vor der Weltöffentlichkeit, indem sie in Verfolgung ihre Hoffnung nicht aufgeben und sie auch durch hoffnungsvolle Institutionen gesellschaftlich bezeugen und wirksam, zu machen versuchen.“ (Ma.94)

[9] Zahrnt, H., Die Sache mit Gott. 1967, S.221

[10] Marquardt „Gott helfe uns.Amen.“ Anmerkungen zum status confessionis jetzt. 1983. S.5. „Die Denkschriften dienen geradezu dazu, Bekenntnisfälle zu vermeiden.“

[11] Marquardt. ebd. S.7  Hier zur Friedensfrage: „Die Gotteserkentnis der Kirche - und damit ihr öffentliches Glaubensbekenntnis - bleibt gespalten zwischen einer halben Erkenntnis uns einer halben Nichterkenntnis Gottes in bezug auf  die Realität. Solche Halbheit der Gotteserkenntnis wirkt sich dann in allen übrigen Erkenntnis- und Daseinsformen der Kirche aus. Die Losung „mit und ohne Waffen“ spiegelt die Halbheit der Erkenntnis Gottes in der Halbheit des ethischen Ratschlags.“

 


 [J.P.1]s.Jes.58,9b.10: „Wenn du in deiner Mitte niemanden unterjochst....sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen....“

ein Leben voller Wunder ...

 

 

 

 

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